Mel Bonis (Mélanie Domange, geb. Bonis) 1858-1937

Ihr Leben
 
Eine Kindheit in Paris

Mélanie Hélène Bonis wird 1858 in eine kleinbürgerliche Pariser Familie hineingeboren. Eine streng katholische Erziehung legt den Grund für die tiefe Religiosität, die ihr Leben prägt und an der sie auch in schwierigsten Situationen  festhalten wird. Die ihr Leben ebenso bestimmende Musik findet allerdings in ihrem familiären Umfeld keinerlei Nährboden. In der Wohnung in der Rue Rambuteau steht zwar ein Klavier. Es gehört zur Grundausstattung eines bürgerlichen Hausstands, aber niemand spielt darauf  -  bis Mélanie es entdeckt. Sehr zum Missfallen der Mutter verbringt das kleine Mädchen Stunden an diesem Instrument, spielt die Lieder nach, die es in der Schule lernt, Melodien, die jeder kennt – und improvisiert,  bis ein Freund der Familie die außergewöhnliche musikalische Begabung der Zwölfjährigen  entdeckt und die Eltern schließlich von der Notwendigkeit eines systematischen  Klavierunterrichts überzeugen kann. Ausschlaggebend für die Zustimmung wird vermutlich das Argument gewesen sein, dass eine musikalische Ausbildung durchaus von Nutzen sein kann, wenn man eine gute Partie machen will...

Konzerte und Aktuelles

Studium am Conservatoire

Ein weiterer Freund der Familie sorgt dafür, dass Mélanie ein paar Jahre später César Franck vorgestellt wird, der ihr 1876 die Türen des Conservatoire Supérieur National  öffnet. So studiert sie nun, obwohl ihre Eltern den Beruf der Näherin für sie vorgesehen hatten, bei Ernest Guiraud Harmonielehre und Klavierbegleitung. Eine ganze Reihe von Preisen und Auszeichnungen der Konservatoriumszeit belegen eindrucksvoll den glänzenden Verlauf ihres Studiums.

1880 darf sie, zusammen mit ihrem Mitschüler Claude Debussy, in die Kompositionsklasse aufrücken, und ihre Leistungen sind auch hier so überdurchschnittlich, dass ihr Lehrer schon bald daran denkt, sie für den begehrten Prix de Rome, den Rompreis, vorzuschlagen.
Ein knappes Jahr später findet ihr so erfolgreiches Studium ein abruptes Ende: In der Gesangsklasse hat Mélanie einen jungen Mann kennen gelernt, Amédée Landély Hettich. Er hält um Mélanies Hand an, aber für die Eltern ist ein Musiker, noch dazu ein unfertiger, als Schwiegersohn schlechthin undenkbar, auch wenn er sich in Paris als Musikkritiker schon einen Namen gemacht hat. Und so zwingen sie ihre Tochter, das Studium aufzugeben, um die beiden voneinander zu trennen.

Hausherrin und Mutter

1883 – sie ist jetzt 25 Jahre alt – heiratet sie auf  Drängen ihrer Eltern den  zweifachen Witwer Albert Domange, einen Industriellen, der fünf Söhne zwischen 18 und 3 Jahren mit in die Ehe bringt und 22 Jahre älter ist als Mélanie. In den folgenden Jahren erzieht sie ihre Stiefsöhne, schenkt selber ihrem Mann drei Kinder und widmet sich gewissenhaft ihren trotz der zwölf Hausangestellten umfangreichen Pflichten als Hausherrin und Mutter.
Ende der achtziger Jahre führt der Zufall sie wieder mit Hettich zusammen, und nach einiger Zeit findet die Zusammenarbeit, die am Konservatorium begonnen hatte, ihre Fortsetzung: Sie arbeitet an seiner 17bändigen „Anthologie des Airs classiques“ mit – er ermuntert sie, wieder  zu komponieren, und so entstehen in dieser Zeit einige ihrer schönsten Vokalwerke – auf Texte von Hettich, der sich inzwischen auch als Dichter einen Namen gemacht hat. Das enge Zusammensein bleibt nicht ohne Folgen. 1899, mit 41 Jahren, bringt Mélanie, unbemerkt von der Familie eine Tochter zur Welt. Sie wächst bei Pflegeeltern auf und erfährt erst mit 20 Jahren unter dramatischen Umständen, dass Madame Domange, die sich bis dahin als ihre Patin ausgibt,  ihre Mutter ist.

Die wichtigste Schaffensperiode

Vergleicht man die Lebensdaten von Mel Bonis   mit den Entstehungsdaten ihrer Werke, so wird deutlich, dass die Musik erst dann wieder den ersten Platz in ihrem Leben einnimmt, als ihre Kinder herangewachsen sind.  Zwischen 1900 und 1914 gelangt ihre Musik zur eigentlichen Reife. Jetzt entsteht der größte Teil ihrer bedeutendsten Kammermusikwerke, aber auch wunderbare Klavierstücke, weltliche und geistliche Lieder und Orgelkompositionen. Ihre Werke werden in der Musikwelt wahrgenommen, aufgeführt und, dank ihrer eigenen Bemühungen, von bedeutenden Verlegern herausgegeben. Eine umfangreiche Korrespondenz mit bekannten Interpreten und Komponisten ihrer Zeit bezeugt, wie sehr ihre Werke geschätzt wurden. Ein Beleg dafür ist der Ausspruch von Camille Saint-Saëns, nachdem er bei einem Hauskonzert ihr 1. Klavierquartett gehört hat: „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau fähig ist, so etwas zu schreiben. Sie kennt alle Tricks unseres Handwerks.“

Die letzten Lebensjahrzehnte

Dieser fruchtbaren Schaffensperiode setzt der Erste Weltkrieg ein jähes Ende. Das Werkverzeichnis weist für die vier Kriegsjahre ein Klavierstück mit dem bezeichnenden Titel „La cathédrale blessée“ auf und ein verloren gegangenes „Andante religioso“. Ihr aufopferndes karitatives Engagement in dieser Zeit – sie setzt sich für Waisenkinder und Kriegsgefangene ein -, das seine Wurzeln sicher auch in ihrer tiefen Religiosität hat, bringt sie an die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Kraft. Diese Grenzen hat sie allerdings auch schon früher erfahren: Schlaflosigkeit, Migräneanfälle und depressive Phasen kannte sie v. a. seit der Geburt ihres dritten Kindes. Ihren letzten Lebensabschnitt überschatten zudem persönliche Schicksalsschläge: der Tod ihres Mannes 1918, mit dem sie immerhin 35 Jahre zusammengelebt hatte, v. a. aber der tragische Tod ihres jüngsten Sohnes im Jahre 1932.

Dennoch entstehen auch jetzt noch hervorragende Kammermusikwerke wie etwa 1928 das 2. Klavierquartett, das sie selbst als ihr musikalisches Testament bezeichnet hat, v. a. aber auch geistliche Werke wie die „Messe à la sérénité“ und eine große Anzahl von Kinderstücken, die sie ihren fünfzehn Enkelkindern zueignet.   Hatte sie sich aber  in der Entstehungszeit ihrer großen Kammermusikwerke noch tatkräftig und mit Erfolg um die Verbreitung ihrer Musik gekümmert, so bleiben in ihrem letzten Lebensabschnitt viele ihrer Werke unveröffentlicht in der Schublade liegen. In einem Brief an ihre Tochter Jeanne, in dem sie ihr Chant nuptial  (Hamelle, 1928) erwähnt, schreibt sie: „Mein großer Kummer: nie meine Musik zu hören.“

Mélanies Urenkelin und Biographin Christine Géliot spricht in ihrem Buch von einem  „Meer von Unverständnis“, dem ihre Urgroßmutter in ihrem letzten Lebensabschnitt gegenübergestanden habe. Sie verschweigt aber auch nicht, dass auch Mel Bonis zuletzt, wie sie sagt, „die Welt nicht mehr verstand“. Zwar war sie stets offen für Neues: Ihre an melodischer und harmonischer Inspiration reiche Musik nimmt im Laufe der Jahre raffinierte impressionistische Färbungen an, greift zu neuen rhythmischen Mustern und wagt hin und wieder kühne Ausflüge in tonale Grenzbereiche – Atonalität allerdings bleibt ihrem Wesen fremd.

Die noch entstehenden Werke zeigen ebenso deutlich wie ihre zahlreichen Tagebucheintragugen, dass sie sich leidenschaftlich in die Religion flüchtet und weisen deutliche Spuren einer depressiven Grundstimmung auf, deren tiefere Ursache sicher auch in ihren unauflöslichen Schuldgefühlen zu suchen ist.

Mel Bonis stirbt 1937 im Alter von 79 Jahren  in ihrem Haus in Sarcelles bei Paris.

Ingrid Mayer

Ihre Musik

Mel Bonis – nach hundert Jahren wiederentdeckt

Es ergeht allen gleich, die zum ersten Mal den so lange vergessenen Werken von Mel Bonis begegnen: Man ist erstaunt über das hohe kompositorische Niveau des Klavierquartetts und der drei Sonaten etwa und spürt, dass es sich hier um eine musikalische Entdeckung handelt, wie sie in unserer Zeit nicht eben alltäglich ist.

Eine Musikerin des „postromantisme“

Eine sehr französische Musik kommt uns hier entgegen, die sich im Paris der Jahrhundertwende entfaltet und entwickelt und ebenso Ausdruck des „postromantisme“ wie des Traditionalismus des Pariser Konservatoriums ist. Aber trotz aller Anklänge an Fauré, Franck und Saint-Saëns hat sie dennoch zu einer eigenen, sehr originellen Musiksprache gefunden, die sogar, wie im Fall der Flöten- und Violinsonate, echte Repertoirelücken schließt. Mit dem Werk und der musikalischen Welt ihrer recht zahlreichen Kolleginnen lässt sie sich nur bedingt vergleichen. Louise Farrenc, stark von der deutschen Klassik und Romantik geprägt, gehört einer früheren, Jeanne Leleu und Germaine Tailleferre gehören einer späteren Generation an, Lili Boulanger und Augusta Holmès haben sich vorwiegend mit den großen Formen, mit Orchester- und Chorwerken verwirklicht. Nur zu Cécile Chaminade ergibt sich eine Parallele durch beider wertvolle Beiträge zur pädagogischen Klavierliteratur.

Im Umkreis des Impressionismus Debussys

Das Klavier war ihr ureigenstes Instrument, und am Klavierklang entwickelte Mel Bonis eine außergewöhnliche Experimentierfreude. Vielen ihrer Werke ist anzuhören, dass die harmonischen Neuerungen Debussys – in der Konservatoriumszeit einer ihrer Studienkollegen – sie fasziniert haben müssen, wie es die häufige Verwendung der Ganztonleiter, des Tritonus, der Chromatik und die Fülle der Arpeggien in ihren Werken bezeugen. Gelegentliche Ausflüge in den Impressionismus bestätigen diese Faszination. Dennoch sind Werke wie ihr Klavierstück „La Cathédrale blessée“ trotz aller thematischen Verwandtschaft zu Debussys „Cathédrale engloutie“ und der offensichtlich gewollten Anlehnung an den Impressionismus Debussys von grundlegend anderem Charakter. Debussys Stück ist eine Musik der Unschärfe, Pianissimo-Akkorde zeichnen ein chimärenhaft geheimnisvolles Bild, das sich jeder konkreten Vorstellung entzieht. Mit kräftigen, nur scheinbar willkürlich aneinander gereihten Akkorden wird dagegen bei Mel Bonis die Zerbrechlichkeit auch größerer Strukturen symbolisiert. Diese Musik ist - anders als bei Debussy -  konkret, fassbar.

So sehr sie auch von den impressionistischen Bausteinen gefesselt war, den Weg zum Impressionismus ist Mel Bonis nicht mitgegangen. Die Auflösung bisher gültiger Strukturen zugunsten lockerer Klanggebilde und Harmoniefolgen war nicht ihre Welt. Auch dem Weg Debussys heraus aus der Tonalität stand sie kritisch gegenüber, obwohl sie selbst gelegentlich in ihrer harmonischen Experimentierfreude Grenzen auslotete. Der Verbleib in der Tonalität war für sie Ausdruck innerer Überzeugung; Musik ohne Bauplan, ohne fassbare Strukturen bedeutete Zerfall und Auflösung – die Einflüsse Francks und ihres Lehrers Guiraud blieben für sie lebendig und bestimmend.

Würdigung

Mit dem ersten Klavierquartett, den drei großen Sonaten, dem Septett und weiteren Kammermusik- und Klavierwerken von Mel Bonis sind Musikstücke auf uns zugekommen, an denen uns die hohe Kunst des Kompositionshandwerks mit dem Einsatz aller bekannten Mittel der Kontrapunktik und harmonischen Auskleidung von einer Komponistin vorgeführt wird, die sich zudem als begnadete Melodikerin erweist. Walter Labhart hat das 1996 treffend formuliert: „Was sie an musikalischen Werken hinterließ, zeugt von einer großen melodischen Begabung und von einem Naturell, das sich zu konzentrieren verstand und lange an Stücken herumfeilte, die dann infolge ihrer Mischung aus Formvollendung und zarter Expressivität, von instrumentaler Brillanz und fein abgestufter Klangkultur zum Bedeutendsten gehören, was kurz vor oder nach der Wende zum 20. Jahrhundert von komponierenden Frauen geschaffen wurde.“

Mit ihrer Kammermusik hat Mel Bonis Werke geschaffen, die nicht nur unter dem Blickwinkel der Musik von Komponistinnen eine hervorragende Rolle spielen, sondern sich mit den bedeutendsten Kammermusikkompositionen der damaligen französischen Schule vergleichen lassen und neben den Meisterwerken von Fauré, Saint-Saëns und Debussy bestehen können.

Dr. Eberhard Mayer, Bern 2000